Als die Waage vor zwei Jahren 128 Kilogramm anzeigt, habe ich Angst. Todesangst. Mehr als einmal liege ich nachts im Bett und kann vor Angst nicht einschlafen. Ich spüre, wie mein Herz rast und stolpert und höre mein Blut im Ohr rauschen. Ich denke, ich werde im Schlaf sterben. Ich versuche mir vorzustellen, wie mein Mann und meine Kinder ohne mich weiterleben.
Ein Besuch bei meiner Hausärztin ergibt, dass ich Bluthochdruck habe. Die verschriebenen Blutdrucksenker vertrage ich nicht. Ich kann mich fast nicht mehr bewegen. Ich komme nicht mehr an meine Füße ran. Ich habe jeden Tag an unterschiedlichen Stellen in meinem Körper Schmerzen. Ich nehme mehrmals täglich Schmerzmittel aller Art zu mir. Da wird mir klar: so geht es nicht mehr weiter.

Rückblick: Schon als Kind im Kindergartenalter fühle ich mich dick. Ich nehme mal vorweg: ich war es nie. Doch im Elternhaus werde ich kurz gehalten, was Essen betrifft. Süßigkeiten werden versteckt. Andererseits werde ich zum Aufessen gezwungen. Ich sitze am Tisch und würge, muss aber sitzenbleiben, bis der Teller leer ist. Kartoffelpuffer ist zum Beispiel so ein Essen, was seitdem nicht mehr geht. Auch im Kindergarten ist der Zwang zum Aufessen an der Tagesordnung. Manchmal habe ich Essen im Mund, bis ich abgeholt werde. Als ich älter bin, wird zu Hause tagsüber die Küche abgeschlossen. Ich hatte mir am Nachmittag nach der Schule in der Pfanne Spiegelei gebraten, weil ich Hunger hatte. Ich esse heimlich.
Ständig wird an mir und meinem Körper herumgemäkelt. Ich sitze und laufe angeblich nicht richtig. Ich soll keine X-Beine machen. Ich soll die Füße anders setzen. Ich gucke falsch. Ich sehe auf Fotos nicht vorteilhaft genug aus. Ich spreche und lache zu laut. Ich bin zu emotional. Nie bin ich gut genug. Andere Mädchen aus dem Bekanntenkreis werden mir ständig als Vorbilder hingestellt.
Ich bin gerne draußen in der Natur, fahre Rollschuh, liebe Radfahren und schwimme leidenschaftlich gern. Auf dem Reiterhof arbeite ich lieber stundenlang hart im Stall als zu Reiten. Ich spiele Theater, bin gerne künstlerisch tätig und bin eine Leseratte. Ich spaziere gerne im Schlosspark umher, balanciere über umgestürzte Bäume und wate in der Panke. Ich bin lieber draußen unterwegs als zu Hause. Dass meine Kleidung draußen dreckig wird oder kaputt geht, bringt mir zu Hause wieder unendlichen Ärger ein. Ich versuche also, mich anzupassen und aufzupassen, wo es nur geht.
Mit 13 Jahren habe ich einen Autounfall. An dessen Folgen habe ich jahrelang zu leiden. Mein Knie ist kaputt. Ich werde mehrmals operiert und verbringe sehr, sehr viel Zeit bei der Krankengymnastik.
Als ich 15 Jahre alt bin, mache ich meine erste Diät. Niemand redet es mir aus. Ich süße meine Erdbeeren mit Süßstoff. Ich esse manchmal einen ganzen Tag gar nichts. Ich versuche in den nächsten Jahren Nulldiät, Fastentee, Früchtewürfel, Zellulosekapseln, Entwässerungstabletten, Abnehm-Shakes, FdH und verschiede andere Diäten, die gerade so propagiert werden. Ich nehme ab und wieder zu. Ich nehme ab und nehme noch mehr zu. Hallo Jojo-Effekt!
Mit 17 lerne ich meinen zukünftigen ersten Mann kennen. Mein Bauch ist ihm zu dick. Da habe ich aber Normalgewicht. Ich diäte weiter und weiter. Da habe ich schon längst das normale Gefühl für Nahrung verloren. Wenn ich das überhaupt jemals hatte. Ich werde immer dicker und dicker. Dann bringe ich mein erstes Kind zur Welt. Die Ehe ist eine Farce. Ich esse, um mich zu trösten und zu belohnen. Wie dick ich da schon bin, ist mir egal. Ich habe mich mit meinem Körper irgendwie arrangiert. Ich trenne mich und bin einige Jahre alleinerziehend.
Dann lerne ich den Liebsten kennen. Alles ist gut. Er liebt mich, so wie ich bin. Wir bekommen vier Kinder miteinander. Ich bin heilfroh, dass mein dicker Körper alle Schwangerschaften problemlos mitmacht. Nach dem Feinultraschall steht im Bericht, dass wegen Adipositas ein spezieller Schallkopf verwendet werden musste. Der Liebste kennt das Wort "Adipositas" nicht. Der Glückliche. Vor den Geburten habe ich immer Sorge, dass ich das als dicke Frau nicht schaffe, weil ich ja wenig Kondition habe. Aber die Geburten verlaufen glücklicherweise immer superschnell. Die Kinder sind gesund. Ich bin stolz auf mich und meinen Körper.
Irgendwann...
Ha! Als ob ich nicht wüsste, wann! Ich kann ganz genau sagen, wie viel ich in jedem Jahr seit meiner Pubertät gewogen habe. Also irgendwann bekomme ich in normalen Läden keine Kleidung mehr. Das Internet mit Onlineshops für große Größen ist ein Segen für mich. Ich ziehe nur noch Kleider an, weil die besser verdecken als Hosen.
Als ich das erste Mal von Adipositasoperationen höre, gruselt es mich. Magenband? Magenverkleinerung? Magenbypass? So ein einschneidender Vorgang (im wahrsten Sinne des Wortes)! Da muss man aber schon sehr verzweifelt sein, wenn man sowas über sich ergehen lässt!
Anfang 2018 bin ich so verzweifelt. Ich habe 50 Kilo Übergewicht und trage Größe 56. Ich denke, ich werde nicht alt und sehe für mein Leben keine Perspektive mehr. Ich informiere mich im Internet und schicke einer Klinik meine Anmeldeunterlagen zu. Ich bekomme einen Termin zur Erstvorstellung. Drei Monate muss ich darauf warten. Bei dem Termin sitze ich zitternd da und weine. Aber das erste Mal seit langem macht mir bei einem Arztbesuch niemand Vorwürfe und behandelt mich wie einen normalen Menschen.
Ich durchlaufe ein festgelegtes Programm. Fast ein ganzes Jahr lang gehe ich regelmäßig zur Ernährungsberatung. Ich besuche ein Patientenseminar. Zusätzlich mache ich mehrmals in der Woche Sport und trage alles in ein Bewegungsprotokoll ein. Ich muss dafür Quittungen sammeln und durch Stempel und Unterschriften jede einzelne Sportstunde nachweisen. Ich schreibe jeden Tag meine gelaufenen Schritte auf. Auch im Urlaub. Zusätzlich habe ich ein Gespräch mit einer Psychologin. Als die ganze Zeit rum ist, habe ich vier Kilo abgenommen. Das ist das Zeichen für mich, dass ich es aus eigener Kraft nicht schaffen kann, abzunehmen. Ich werde mich operieren lassen.
Mit meinem prall gefüllten Ordner treffe ich zum Termin zur Antragstellung ein. Eine ganze Stunde lang wird jede Seite sehr akribisch geprüft. Alle Unterlagen werden an die Krankenkasse geschickt, die ihr Einverständnis zur Operation und somit zur Kostenübernahme geben muss. Die Operation wird genehmigt. Ich warte nochmal drei Monate auf meinen Operationstermin. Im Aufklärungsgespräch werden Operationsverfahren und Risiken erörtert.
Vor der Operation darf ich genau zwei Wochen lang ausschließlich flüssige Shakes mit einem hohen Eiweißanteil zu mir nehmen. Nur drei am Tag. Das ist sehr wichtig, denn dadurch verkleinert sich die Leber und die Operation wird vereinfacht.
Am Montag, den 20. Mai 2019 ist es schließlich soweit: ich werde operiert. Es soll ein Magenbypass werden. Ich habe ziemliche Angst. Ich checke am Morgen in der Klinik ein und muss bis zum Abend warten, bis ich endlich drankomme. Die Narkose ist diesmal anstrengend und ich wache schlecht wieder auf. In den nächsten Tagen geht es mir erstmal nicht so gut. Ich brauche viele Schmerzmittel. Aber als ich am Freitag entlassen werde, geht es mir schon viel besser und schon ab dem nächsten Tag brauche ich auch keine Schmerzmittel mehr.
Meinen Bauch zieren sechs kleine Schnitte. Die Fäden werden nach zehn Tagen von meiner Hausärztin gezogen. Die Wunden verheilen gut und sind bald fast nicht mehr zu sehen. Ich gehe regelmäßig zu den Kontrolluntersuchungen in der Klinik.
In den folgenden Wochen esse ich erstmal nur Flüssiges wie Suppen und Quark oder Joghurt. Nach ungefähr sechs Wochen taste ich mich so langsam an festere Nahrung heran. Ich muss vorrangig eiweißhaltige Nahrung zu mir nehmen, um die Muskelfunktionen zu erhalten. Außerdem muss ich seit der Operation lebenslang täglich ein hochdosiertes Multivitaminpräparat und Calcium zu mir nehmen, da durch die Operation die Aufnahme von Nährstoffen in den Körper reduziert ist.
Kohlehydrate vertrage ich nicht mehr so gut. Es hat eine Weile gedauert, mich daran zu gewöhnen, dass ich keine Brötchen mehr zum Frühstück essen kann. Eine halbe Scheibe reines Vollkornbrot geht ganz gut. Aber lieber esse ich jetzt glattgerührten Magerquark mit Obst und ein ganz bisschen Müsli. Mittags gibt es bei mir jetzt immer Gemüse mit einer Eiweißquelle, also z.B. Quark, Hüttenkäse, Tofu, Feta, Hühnchen oder Fisch. Und am Abend Ähnliches. Die Portionen sind jetzt immer ganz klein.
Ich habe keinen Hunger und Durst mehr. Das ist ziemlich befreiend. Dafür habe ich das erste Mal seit sehr langer Zeit wieder ein Sättigungsgefühl. Weil ich viel trinken soll, bleibt gar nicht so viel Zeit zum Essen. Ich esse ganz langsam und bewusst. Doch ich gebe zu, Appetit und Gelüste sind geblieben. Denn wie wird immer so schön gesagt: Der Kopf wird nicht operiert. Das Essverhalten wird vom Kopf gesteuert. Deshalb ist die Operation nur eine Hilfe, kein Allheilmittel. Das weiß ich auch.
Trotzdem habe ich ein ganz neues Lebensgefühl. Die Kilos sind rasant verschwunden. Ich kann mich wieder mehr bewegen. Ich kann beim Sitzen die Beine übereinanderschlagen. Ich bekomme meine Socken wieder ohne Atemnot an. Ich passe wieder in die Badewanne und komme da auch wieder raus, das ist so schön! Der Bluthochdruck ist weg. Ich schlafe besser. Ich trage Miniröcke. In Größe 40. Mir geht es richtig gut! Ich bin wahrlich erleichtert. Und ich habe mich befreit. Innerlich und äußerlich. Um negatives Gedankengut. Und um genau 50 Kilogramm.
An dieser Stelle bitte ich um Respekt und darum, von Kommentaren in der Art "... ich kannte da mal eine, die hat aber wieder zugenommen..., da ist etwas schief gegangen... , ... bei meiner Kollegin war das aber so..., das hätte ich aber niemals gemacht..., ah, der leichte Weg! " etc. Abstand zu nehmen. Vielen herzlichen Dank!
Diese Fotos zu zeigen, fällt mir nicht leicht. Ich habe sehr wenige Ganzkörperfotos aus den letzten Jahren. Ich erschrecke mich selber, wenn ich die alten Bilder sehe. Zwischen den Bildern liegt genau ein Jahr. 19. Februar 2019 und 14. Februar 2020. Auf den Bildern vom letzten Jahr ging es mir gar nicht gut. Heute geht es mir sooo viel besser!