Ein neuer Morgen. Eine neue Woche. Nachdem ich heute die Augustschnuppe in den Kindergarten gebracht habe, bin ich mit dem Fahrrad zum Wismarer Friedhof gefahren.
Schon zwei Mal war ich dort auf Beerdigungen. Im Jahr 2000 wurde meine Uroma beerdigt, 2001 mein Opa. Und auch schon früher war ich öfters dort, immer dann, wenn mich meine Oma zur Grabpflege an Uropas Grab mitnahm. Den ganz genauen Ort, wo sie alle liegen, weiß ich nicht mehr. Die alten Gräber gibt es längst nicht mehr, die neuen wurden gleich anonym angelegt.
Ich war heute Morgen, so weit ich sehen konnte, die einzige Besucherin. Irgendwo zwischen den Reihen waren Gartenarbeiter beschäftigt. Ich hörte Rasenmähergeräusche. Ich schloss mein Fahrrad an und spazierte los. Ich war gespannt, ob ich irgendeine Stelle wiedererkennen würde.
Der Friedhof liegt südlich der Altstadt und wurde 1831 kirchlich geweiht. Der damalige Bürgermeister Haupt ließ den Friedhof auf dem ehemaligen Hinrichtungsort anlegen und reservierte sich gleich sein eigenes Grab an genau der Stelle, an der der Galgen stand. Nur vier Jahre später wurde er mit nur 35 Jahren dort beerdigt.
Solche spannenden Geschichten kann man auf Infotafeln, die überall auf dem Friedhof zu finden sind, nachlesen. Als der parkähnliche Friedhof bepflanzt werden sollte, bat man die Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt, Sträucher und Bäume aus ihren Gärten zu spenden.
Das Grab der Künstlerin Sella Hasse hat mich sehr beeindruckt. Sie liegt Seite an Seite mit ihrer Mutter und ihrer Tochter, die jung starb. Auf allen Namenstafeln an den Stelen mit den Gesichtern sind nicht nur Geburts- und Sterbedatum vermerkt, sondern sogar die dazugehörigen Uhrzeiten.
Sella Hasse gehörte zu den bedeutendsten Künstlerinnen ihrer Zeit. Sie hatte engen Kontakt zu Käthe Kollwitz, lebte und arbeitete von 1910 bis 1930 in Wismar. Unter den Nazis galt ihre Kunst als entartet. Noch zu Lebzeiten bot sie der Stadt einen Teil ihrer Werke an, wenn dafür ihre Grabstelle, die nach ihren Entwürfen gefertigt wurde, gepflegt und erhalten werden würde.
Es gibt noch mehr interessante Grabstellen, die immer mal wieder meinen Blick einfingen. Es war ein sehr schön sonniger Morgen heute. Ein frischer Wind pustete durch die hohen alten Bäume. Über den noch taunassen Gräsern schwirrten kleine Insekten in den schräg stehenden Sonnenstrahlen.
Ich hatte viel Zeit, um mich umzusehen. Ich ließ mich treiben und entdeckte immer wieder schöne Stellen. Der Friedhof liegt auf einer Anhöhe. Am südlichen Rand kann man weit ins Land und über einen großen See schauen. Der glitzerte heute Morgen und war so blau wie der Himmel.
Um die Mittelachse herum gruppieren sich halbkreisförmig die Grabfelder. Es gibt Erdgräber, Urnengräber, Einzel- und Gemeinschaftsgräber, mit Steinen oder anonym, und neuerdings sogar Grabstellen an Bäumen.
Am Ende der langen Allee befindet sich die Trauerhalle. Dort sah ich damals vor den Beerdigungen die Verstorbenen hinter einer großen Glasscheibe. Wie in einem Schaufenster lagen sie dahinter wächsern in weißen Kissen in ihrem Sarg. Ich weiß nicht, ob das immernoch so gemacht wird. Für mich war das damals alles so nüchtern, ich habe nichts gefühlt dabei.
Vom nördlichen Rand des Friedhofs aus konnte ich die Kirchtürme von Wismar und die Hafenkräne sehen. Ahhh, ein toller Blick!
Ich dachte so vor mich hin, wie man es doch nur auf Friedhöfen tun kann. Über Beginn und Endlichkeit von allem. Über Liebe und Freundschaft und Trauer und Streit und Versöhnung. Über die Schlechtigkeit der Welt. Und die Dinge, die das Leben lebenswert machen.
Ich erinnerte mich an ein Lied, das gestern im Gottesdienst gesungen wurde. Ich summte es vor mich hin. Der Text hat sehr kraftvolle und tröstliche Bilder in mir entstehen lassen: "... There is another in the fire, standing next to me, there is another in the waters, holding back the seas, and should I ever need reminding, what power set me free, there is a grave that holds no body, and now that power lives in me..."
Ich ließ ein paar Tränen laufen und atmete dann wieder tief durch. Den Alltagskram hatte ich für eine Weile vergessen. Und das hat mir sehr gut getan.
Ich danke für das Mitlesen und die Anteilnahme. Ich will denen, die es gerne möchten, die Möglichkeit geben, etwas in die virtuelle Kaffeekasse zu tun. Herzlichen Dank für die Anerkennung!