Mittwoch, 18. September 2019

"Ich zünd dir deine Welt an."


"Ich öffne das Säckchen, darin sind lauter flache, runde Steine. Ich ziehe einen heraus. Auf dem Stein ist ein Zeichen gemalt. Drei Linien, die sich miteinander verbinden. Ein Buchstabe. Was er wohl bedeuten mag? Ich leere das Säckchen. Alle Buchstaben, die es gibt, liegen auf meinem Bauch. Alle Worte, die es gibt, liegen auf meinem Bauch. Die ganze Welt liegt auf meinem Bauch." 


Die namenlose Ich-Erzählerin lebt auf einer Insel im Dorf der Tausendaugen. Das Dorf sieht alles, hört alles, riecht alles, weiß alles, erzählt alles weiter. Es gelten strenge Regeln, besonders für die Frauen. Sie dürfen nicht lesen und schreiben lernen. Männer dominieren das Leben. Religion gibt die Gesetze vor. Das Leben ist einfach und hart.

Die Erzählerin ist ein Findelkind. Ohne Stammbaum ist sie ein Niemand, sie darf nichtmal einen Namen bekommen. Keiner wird ihr am Grab das Miroloi über ihr Leben singen. Doch sie ist neugierig, offenherzig und mutig. Sie steht unter dem Schutz eines respektierten Mannes im Dorf. Er bringt ihr heimlich das Lesen bei. Nach und nach wacht sie auf. Sie probiert sich aus, übertritt Grenzen und wartet deshalb ständig auf die Strafe der Götter. Die kommt nicht. Ist sie sogar für die Götter ein Niemand?

Ich bin mit dem Buch noch nicht ganz durch. Aber ich warte jeden Moment auf den großen Knall. Wie lange bleibt das Tun der jungen Frau unentdeckt? Wie lange kann sie ihr neues Wissen geheimhalten? Wie lange kann das noch gut gehen? Welche Konsequenzen wird das alles haben? Oder werden sich ihr vielleicht andere Frauen des Dorfes anschließen? Zu wünschen wäre es ihnen.

Seit einer Weile folge ich auf Instagram immer mehr Buchliebhaberinnen und Buchliebhabern. Ich lese sehr gerne ihre Buchempfehlungen und lasse mich anstecken von ihrer Lust an Büchern. Immer mehr Bücher landen auf meiner imaginären Lese-ich-irgendwann-mal-Liste. Und es kommen immer neue hinzu.

Schon vor dem Sommer erfuhr ich so vom neuen Buch von Karen Köhler und kaufte mir gleich eine Karte für die Lesung in der Erscheinungswoche. Ihr Erzählband "Wir haben Raketen geangelt" von 2016 wurde hochgelobt. Das frisch erschienene Buch "Miroloi" (beides Amazon-Partner-Links) dagegen spaltet die Lesenden. Was soll das für eine Gesellschaft sein, in der die Erzählerin lebt? Wo und wann spielt die Geschichte?

Ich finde das wo und wann gar nicht so wichtig. In der Geschichte der Menschheit gab es und gibt es immer noch solche Gesellschaftsformen. Wichtiger finde ich, die Protagonistin zu begleiten und ihr zuzuhören. Sie erzählt in einer für mich sehr schönen und blumigen Sprache. Die Sprache wirkt vielleicht ein bisschen naiv, zeigt aber ganz gut das Innenleben der sozial isolierten jungen Frau. Manchmal zählt sie Dinge in einem Tempo auf, dass es fast atemlos wirkt. Als müsste sie all ihre Gedanken ganz schnell aussprechen, bevor sie wieder verschwinden.

Ich fragte deshalb meine Sitznachbarin, die zufällig Caro hieß, und die das Buch schon gelesen hatte, ob der Text auch Satzzeichen hat. So ein Gefühl hatte ich, als ich Karen Köhler bei ihrer Lesung zuhörte. Ihre Stimme habe ich jetzt beim selber Lesen immer im Ohr. Das von Karen Köhler persönlich eingelesene Hörbuch (Amazon-Partner-Link) ist sicher ein ganz besonderer Hörgenuss. Ich finde die Autorin sehr sympathisch. Im Gespräch erzählte sie von ihrer Arbeit am Buch. Sie recherchierte, kochte und malte. Ja, sie hat sogar den wunderschönen Bucheinband selbst gestaltet.

"Ich zünd dir deine Welt an." schrieb sie vorne in mein Buch hinein. Ich ahne...




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