Sonntag, 26. Februar 2012

Im Hospiz

Als ich letztes Jahr am 2. Weihnachtsfeiertag meine Oma im Krankenhaus in Berlin besuche, erwartet mich ein erbärmlicher Anblick. Sie liegt allein in einem grell beleuchtetem Krankenzimmer. Das graue Krankenhausnachthemd ist ihr viel zu groß. Die Haare sind wirr, die Bettdecke verrutscht. Meine Oma hat unheimlichen Durst, ist aber nur an einen Tropf mit Kochsalzlösung angeschlossen. Die Lippen und die Zunge sind trocken und borkig. Oma hat ihre Zähne nicht drin, deshalb sieht sie ungewohnt aus. Das Sprechen fällt ihr schwer.
Sie ist gezeichnet von der Krebserkrankung, an der sie fünf Tage später sterben wird. Die Krankenschwestern laufen an ihrem Zimmer vorbei. Die letzte Zimmernachbarin hat sich über Oma beschwert, sie würde zu viel jammern. Oma sollte sich doch mal zusammenreißen. Die Schmerzmittel werden nur sparsam gegeben, sie könnten ja abhängig machen.
Als ich mich über meine Oma beuge, ist sie begeistert von meinem Duft. Ich soll doch mal in ihrem Kulturbeutel nachschauen, da hat sie auch was zum Duften drin. Ich finde ein kleines Fläschchen Kölnisch Wasser und betupfe Oma damit. Sie freut sich so sehr darüber. Dann hätte sie gerne ihr Halstuch um und noch eine Bettdecke, ihr ist doch so kalt. Sie fühlt sich einsam und unverstanden.

Ich hoffe, dass sie diese Nacht noch überlebt, denn am nächsten Tag soll sie in ein Hospiz verlegt werden. Mein Papa hat das organisiert. Die Warteliste war lang und mit Glück hat Oma doch einen Platz bekommen.
Am nächsten Tag wird sie in das Hospiz verlegt. Dort wird sie gewaschen, frisiert, bekommt ihre Zähne eingesetzt und ihre eigenen Sachen angezogen. Sie ist keine Patientin sondern Gast. Und so wird sie auch behandelt. Sie bekommt ein bißchen Kaffee zu trinken und jeder Wunsch wird ihr erfüllt. Sie bekommt Schmerzmittel, so viel wie nötig. Sie blüht unter der Fürsorge noch ein letztes Mal auf. Sie hat ihre Würde wiederbekommen. Das Zimmer ist warm und freundlich und ähnelt eher einen schönen Hotelzimmer.
Dass die Silvesternacht anbricht, bekommt Oma schon gar nicht mehr mit. Dennoch ist ihr Nachttisch mit Papierschlangen und Luftballons geschmückt. Um 23.47 Uhr stirbt meine Oma. Allein die Angabe der Uhrzeit besagt, dass jemand an ihrem Bett gesessen hat. Das finde ich sehr beruhigend. Vor der Zimmertür brennt zum Zeichen für alle anderen Bewohner eine Kerze. Mein Papa fährt am nächsten Morgen ins Hospiz um Oma nochmal zu sehen. Auf dem Nachttisch brennen Kerzen und eine Rose liegt darauf. Oma ist vollständig angezogen, sogar ihre Mütze hat sie auf. Ihr Halstuch liegt schön drapiert über ihren Beinen. Mein Papa sagt, es war schön. Traurig, aber einfach schön.
Angehörige werden im Hospiz auch nach dem Tod noch weiterbetreut. Es gibt ein Trauercafé mit Ansprechpartnern und alle paar Monate Gedenkfeiern für alle und ein Beisammensein bei Kaffee und Kuchen. Diese Erfahrung war wichtig für unsere ganze Familie. Es ist nur jedem zu wünschen, dass er, wenn es soweit ist und nötig ist, so umsorgt an einem schönen Ort sterben darf.

Im Süden Hamburgs soll ein Hospiz eröffnet werden. Es gibt tatsächlich Anwohner, die deshalb einen Wertverlust ihrer Immobilie fürchten. Mütter möchten ihren Kindern "den Anblick des Todes" ersparen. Leichenwagen würden stören. Die Vorstadtidylle ist in Gefahr. Ich spare mir weitere Worte. Ich schüttle nur den Kopf...


Noch etwas: ich möchte ausdrücklich betonen, dass ich im Krankenhaus niemandem einen Vorwurf machen möchte! Durch etliche Krankenhausaufenthalte und Krankenschwestern im Bekanntenkreis habe ich genug Einblick in den Krankenhausalltag gewonnen. Das System ist so, wie es leider ist. Die Zeit ist knapp, der Stress hoch. ...