Freitag, 24. September 2021

Zeitreise im Stadtgeschichtlichen Museum Wismar

Wismar um 1560. 

Geflüchtete sind in der Stadt angekommen. Sie sind mit ihren Familien aus ihrer Heimat Flandern geflohen, weil sie aufgrund ihrer Religion verfolgt wurden und ihnen dort die Todesstrafe drohte. Tausende wurden schon hingerichtet.

Flandern war römisch-katholisch. Die Geflüchteten gehörten einer radikal-reformatorischen Bewegung an, den Täufern. Das Wort "Wiedertäufer" empfanden sie als beleidigend, denn nach ihrer Auffassung tauften sie nicht "wieder" sondern erstmals nach dem aktiven Glaubensbekenntnis eines Menschen. Sie waren außerdem für eine Trennung von Staat und Kirche, für Gewaltverzicht und lehnten den Wehrdienst ab. 

Nach der langen Flucht fanden sie Unterschlupf in Wismar. Hier fassten sie Fuß und konnten ihre Fähigkeiten in der Kunst des Teppichwebens unter Beweis stellen und Aufträge ergattern. Ihre prachtvollen Wandteppiche waren nicht für jeden Haushalt geeignet, nein, sie zierten herrschaftliche Häuser, Klöster oder sogar Schlösser. 

Die Arbeiten aus Seide und Wolle waren so fein, solche Teppiche wären viel zu schade um sie auf dem Boden mit den Füßen zu treten. Manche Teppiche maßen stolze 4 mal 5 Meter und zeigten biblische Szenen. Damit wollten die reichen Besitzer z.B. zeigen, dass sie genauso weise, gerecht und friedliebend wie der legendäre König Salomo waren.


Die einheimischen Weber, die diese filigranen Fähigkeiten nicht beherrschten, beäugten die Eingewanderten kritisch und fürchteten um ihr Auskommen. Die Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt waren unruhig und besorgt. Würden sie ihre Arbeit verlieren? Vertrug die Stadt noch mehr Menschen? Da gab es Mägde und Knechte, Töchter und Söhne von Ratsherren, Töchter und Söhne von Fischern oder Bierbrauern. 

Wenn sie beim Korbflechten, beim Sticken, beim Wasserholen, in der Schreibstube oder bei Malzbier und Butterbrot aufeinandertrafen, unterhielten sich die Menschen über Alltägliches wie Kinder, Haustiere, Kleidung und Einkäufe. Es wurden vorherbestimmte Lebensläufe in Frage gestellt. Es wurde getrascht, geträumt, gescherzt und gelacht. Aber auch über die Geflüchteten wurde gesprochen. 

 

In der Ratsversammlung, in der die Ratsherren und Kaufleute der Stadt zusammenkamen, wurde Politik gemacht. Und es wurden aktuelle Themen der Stadt besprochen. Die Haustiere des Nachbarn machten zu viel Lärm und Dreck. Der Brotpreis war zu hoch. Die Wasserversorgung der Stadt musste gesichert werden. Der Brauereibesitzer suchte neue Knechte. Sollten auch Mädchen lesen und schreiben lernen? 

In der Versammlung sollte auch darüber entschieden werden, ob die Eingewanderten aus Flandern bleiben dürfen oder nicht. Da wurde teilweise heftig debattiert. Sollten die Eingewanderten Gegenleistungen für ihr Bleiberecht erbringen? Sollten sie bedingungslos Bürgerinnen und Bürger der Stadt werden dürfen? Wie sollten sie integriert werden? Wie sollten sie sich einbringen?

Im Rahmen des Projektes "Time Travel" werden Themen behandelt, die damals wie heute nichts an ihrer Aktualität eingebüßt haben. Das Angebot richtet sich an Schulklassen oder Teams, die gemeinsam eine Fortbildung aktiv gestalten möchten. 

Durch die museumspädagogische Methode soll ein besseres Verständnis der Herausforderungen unserer modernen Gesellschaft anhand von geschichtlichen Hintergründen geschaffen werden. Ein Schwerpunkt bildet dabei die Migration aus sozio-ökonomischen Gründen, die aus internationaler Perspektive betrachtet werden soll. Können wir in der Vergangenheit Antworten auf heutige Fragen finden? 

Die Zeitreisen sind eine Idee von "Crossroads in History", einem Netzwerk von Museen im südlichen Ostseeraum. Teams aus Deutschland, Polen, Litauen und Schweden arbeiten an diesem Projekt und tauschen sich regelmäßig aus. Ziel ist die Stärkung der regionalen Identität durch Trainings und Workshops aller teilnehmenden Länder. 

Im stadtgeschichtlichen Museum Wismar, dem Schabbellhaus, haben sich in den letzten Wochen Schülerinnen und Schüler für jeweils einen Vormittag zur Zeitreise eingefunden. Zu Beginn gibt es am Morgen eine kurze Einführung in das Leben in Wismar im 16. Jahrhundert. Es geht um die Menschen in der Stadt, deren Kleidung und die flämischen Teppichweber. Der große Wandteppich in der Ausstellung wird besucht und besprochen.

Die eigentliche Zeitreise beginnt mit der Verteilung der nach historischen Vorbildern extra angefertigten Kostüme. Dafür konnten Fördergelder eingesetzt werden. Es gibt u.a. mit goldenen Borten prächtig verzierte Samtumhänge, lange Röcke, Hauben, schlichte Leinenhemden oder Wollmützen. Zum Kostüm gibt es für jede Person einen neuen Namen und einen Mini-Steckbrief. Ganz kurz wird darin die Rolle des Vormittags angerissen. Welche  Rolle es wird, ob von hohem oder niedrigerem Rang, entscheidet das Schicksal oder eben das Los. Wie die Rolle gefüllt werden wird, darf jede Person für sich selbst bestimmen.

Nach einer kurzen Aufstellung im Kreis beginnt die Zeitreise. Sie wird im Museumsgarten oder im Keller des Wismarer Rathauses durchgeführt. Das museumspädagogische Personal des Museums lenkt das Geschehen mit Fingerspitzengefühl und gezielt eingesetzten Stichworten und Dialogen.


Nach anfänglichen Staunen gehen die Schülerinnen und Schüler ganz unterschiedlich an ihre neuen Rolle heran. Die ungewohnten Kostüme können dabei helfen. Manche Personen bleiben zögerlich, andere gehen voll in ihrer Rolle auf. Zirka anderthalb Stunden bewegen wir uns im Jahr 1560, in dem sich nachgewiesenermaßen flämische Teppichweber in Wismar niederließen. An verschiedenen Stationen gibt es ganz ungezwungen etwas zu tun, es gibt Essen und Getränke. 

Es ist ein Privileg und ein Geschenk, die Kinder bei ihrem Tun zu beobachten und zu begleiten! Sie haben tolle Ideen, wie mit den eingewanderten Menschen umgegangen werden könnte. Sie sind voller Mitgefühl und würden die neuen Nachbarinnen und Nachbarn gerne unterstützen. Das reicht von Sachspenden über ein Zimmerangebot bis hin zu einer passenden Beschäftigung.

Am Ende eines Vormittags kommen wir wieder in der Gegenwart an. In einer Feedbackrunde sprechen wir über anfängliche Erwartungen, die Gefühle während der Zeitreise und das Fazit. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommen zu Wort. 

Einhelliges Fazit: so macht ein Museumsbesuch Spaß! Es ist nur zu wünschen, dass der Transfer der Erfahrungen in der fiktiven historischen Gesellschaft in die heutige Zeit gelingt. Denn darauf wollen wir bauen: dass ein Miteinander unterschiedlicher Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen in einer Gesellschaft gelingen kann.





Ich danke für das Mitlesen und die Anteilnahme. Ich will denen, die es gerne möchten, die Möglichkeit geben, etwas in die virtuelle Kaffeekasse zu tun. Herzlichen Dank für die Anerkennung!

6 Kommentare:

  1. Ja, so macht es Spass ein Museum zu besuchen. (Jetzt muss ich Mal nachschlagen, wie die Geschichte ausgegangen ist)
    Danke für s Mitnehmen und liebe Grüße
    Nina

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    1. Vielen Dank fürs Lesen :-)

      Viel ist nicht zu finden. Die Eingewanderten haben sich in der damaligen Stadtgesellschaft assimiliert.

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  2. Was für eine schöne Idee. Ich wünschte, mehr Museen würden solche Zeitreisen anbieten.

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  3. Das ist ja eine tolle IDEE - ein Museum so kennenzulernen.., es gibt so manche Stadtgeschichte, die in Vergesenheit geraten ist......
    Weiter so.
    Liebe Grüße *rena*

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  4. Wow, ganz toll. Ich nehme es mit in mein Team, weil wir in diesem Themenbereich arbeiten. Vielleicht sind die anderen auch so begeistert, dann kommen wir :-). LG Maren

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