Sonntag, 25. September 2022

So ein Theater!



"Im nächsten Jahr suche ich mir aber ein anderes Hobby!" 

Kurz vor der Premiere lagen nicht nur bei mir die Nerven blank. Wie sollten wir bloß dieses zweistündige Stück auf die Straße bringen? Wie sind denn die Abläufe? Wo treten wir auf? Wo gehen wir ab? Rechts oder links? Wie lang sind die Szenen? Wer spielt was?

Monate zuvor haben wir uns das erste Mal getroffen. Ich wollte gerne mal wieder Theater spielen. Als Kind und Jugendliche war ich in verschiedenen Theatergruppen aktiv. Ich folgte einem Aufruf und wusste nur, es geht um Nosferatu. Um Großfiguren. Und um Straßentheater. Doch es gab noch keinen Text, keine Musik, kein fertiges Stück. 

Nosferatu ist ein sehr berühmter Filmklassiker über einen Vampir, der vor 100 Jahren u.a. in Wismar gedreht wurde. Damals waren Außenaufnahmen noch sehr selten, meistens wurde in Studios gedreht. In dem Stummfilm kann man Wismar von früher entdecken. Anderthalb Stunden dauert der Film, das ist auch sehr beachtlich. Und er funktioniert auch noch heute. Besonders die Musik trägt zu der Spannung des Filmes bei. 

Anfang des Jahres lagen einzig ein paar Teile der Figuren in der Werkstatt und im Hof herum. Köpfe und Hände. Die wurden nach und nach fertig gestellt. Aus dünnem Papier und Jutefasern Schicht für Schicht geklebt und bemalt. Später kamen Gestelle zum Tragen dazu und Kostüme. Was für Kostüme! Wunderbare detailreiche selbstgenähte Kostüme! Mit Knöpfen, Borten, Schleifen und Spitze. 

In wochenlanger Arbeit entwickelten wir miteinander die Szenen. Wir machten bei unseren Gruppentreffen Aufwärmübungen, wie es im Theater üblich ist. Die sind meistens sehr körperlich. Man kommt sich teilweise sehr nah. Doch für das Theaterspiel braucht es einen geschützten Rahmen und viel Vertrauen. So haben wir als Gruppe gut zusammengefunden.

Wir fingen ganz vorne an. Wie sind die Bewegungen des Körpers beim Nachdenken, beim Begrüßen, bei Verabschiedungen? Wie drücken wir Unbeschwertheit, Freude, Liebe, böse Vorahnungen  oder Sorge aus? Wie halten wir dabei den Kopf, den Körper, die Arme? Sehr kleinteilig war die Arbeit. Dann gab es Vorschläge für bestimmte Szenen. 

All unsere Überlegungen mussten nun für Körper entwickelt werden, die um ein Vielfaches größer waren. Wie spielen wir die Szenen mit Armen, die zwei Meter lang sind? Mit Schultern, die sich drei Meter über uns befinden und mit denen man nicht zucken kann? Mit einem Kopf in vier Metern Höhe? 

Nach und nach bekamen wir eine ungefähre Vorstellung davon, was da auf uns zukommen würde. Ein Terminplan wurde herausgegeben. Theaterproben, Werbeauftritte, Festivals, Intensivwochenenden, Hauptprobe, Generalprobe, Premiere, vier Aufführungen im August und vier im September. Was das heißen würde, ahnten wir noch nicht. 

Parallel dazu wurde weiter an den Figuren gebaut. Sieben Stück waren es schließlich. Jede mit einem ganz speziellen Ausdruck. Sie wurden immer weiter verbessert. Das Ringen um Sponsoren und Spendengelder nebenbei war auch sehr langwierig. 

Der Frühling kam, wir konnten endlich auf den Straßen proben. Der Sommer wurde heiß. Sehr heiß. Und anstrengend. Ich stand öfters kurz davor, alles hinzuschmeißen. Meine Schultern schmerzten, ich nahm Tabletten und schmierte tapfer Schmerzsalbe auf meine Kalkschultern. Ich hatte Angst, dass ich wieder monatelang damit zu tun haben würde. Die Träger der Figuren beneidete ich nicht. Aber auch die langen Arme mit den schweren Händen zu tragen und ständig über Kopf zu bewegen verlangte mir viel ab. 

Um alle Figuren besetzen zu können, fehlten uns immer noch etliche Personen. Wir fragten herum, machten viel Werbung. Schließlich bekamen wir Verstärkung aus einer unerwarteten Richtung: Menschen, die aus der Ukraine geflohen waren, fanden sich ein. Jetzt waren wir eine ganz bunte Truppe. Alt und Jung, Menschen aus Wismar und allen Teilen Deutschlands, der Ukraine, England und Russland. Wir verständigten uns auf Englisch und lernten voneinander ein bisschen unsere Sprachen. 

Wir probten und probten. Wir wussten, es würde Musik geben. Wir bekamen ein Drehbuch mit Text. Doch immer noch reichte unsere Vorstellung nicht ganz aus, wie das fertige Stück wirklich werden würde. Wir hielten durch und ermunterten uns gegenseitig. Immer wieder wurde an den Figuren gefeilt. 

Dann kamen die Kopfhörer. Per Funk über einen Technikwagen kam der Ton auf unsere Ohren. Menschen, die ein Ticket für das Stück erwarben, sollten während der Aufführung mit Kopfhörern ausgestattet werden. Wir hörten also das erste Mal das Stück. Der eingesprochene Text und die eigens komponierte Musik wechselten sich ab. 

Wir gingen die Orte, an denen wir mit den Figuren spielen sollten, ohne Figuren ab. Dann bildeten wir feste Teams, Dreiergruppen, die jeweils für eine Figur zuständig waren. Jede Gruppe lernte, ihre Figur zu transportieren und auf- und abzubauen. Ein ganz toller Schauspieler kam dazu, der das Publikum durch das Stück und die Stadt leiten sollte. 

Die Premiere rückte näher. Die Figuren zeigten erste Macken, die repariert werden mussten. Alles Marke Eigenbau mit sehr viel Improvisation. Karabinerhaken spielten, im wahrsten Sinne des Wortes, eine tragende Rolle. 

Erst kam die Hauptprobe und dann die Generalprobe vor Publikum. Da lief noch einiges schief. Doch das bemerkten nur wir. Am 12. August fand die Premiere statt. Ausverkauft! Das heißt, 150 Menschen wollten tatsächlich gerne unser Theaterstück sehen! Die anschließende Premierenfeier war das Gegenteil von rauschend. Wir waren einfach zu geschafft von der Hitze und der Anspannung der vorangegangenen Wochen. 

Erst jetzt hatten wir richtig verstanden, was wir da machten. Erst jetzt waren die Abläufe so richtig klar. Und wir wurden von Auftritt zu Auftritt besser. Auf- und Abbau der Figuren ging schneller von der Hand. Die Szenen funktionierten und so langsam waren wir schon ein bisschen stolz auf uns. Das Stück vor der Kulisse der historischen Altstadt muss toll ausgesehen haben!

Wir wurden immer besser und wuchsen als Team so richtig zusammen. Während wir mit unseren Figuren auf unseren Einsatz warteten, entspannen sich gute Gespräche. Ich spielte mit zwei jungen Menschen aus der Ukraine. Sie sind mir ans Herz gewachsen. Ich bewundere sie für ihre Stärke und hoffe, sie können bald ihre Familien wiedersehen. 

Am letzten Freitag fand die letzte Vorstellung in diesem Jahr statt. Alle unsere Vorstellungen waren ausverkauft. Das Wetter spielte mit, es gab keinen Regen. Niemand wurde ernsthaft krank. Das Publikum war begeistert. Die Abschlussfeier wurde rauschend, oh ja! Wir lachten, sangen, musizierten, aßen und tranken zusammen. Tränen liefen auch, bei mir auf alle Fälle. Es gab viele Umarmungen und Pläne für regelmäßige Treffen in den nächsten Monaten. Im nächsten Jahr soll es weitergehen mit den Vorstellungen.  

Ich glaube, ich suche mir doch kein neues Hobby. 


Ich danke für das Mitlesen und die Anteilnahme. Hier gibt es die Möglichkeit, etwas in die virtuelle Kaffeekasse zu tun. Herzlichen Dank für die Anerkennung!



10 Kommentare:

  1. Wahnsinn, was Ihr bzw Du da gestemmt habt! Da steckt echtes Herzblut drin (ohne das hättest Du wahrscheinlich zwischendurch wirklich hingeschmissen)! Du kannst stolz auf Dich und Deine Truppe sein - Hammer! Ich freue mich auch riesig für Euch, dass es so fantastisch von den Zuschauer*innen angenommen wurde! Die Folge Soko Wismar wollte ich mir auch noch anschauen. Jetzt wünsche ich Dir eine gute Verschnaufpause, bevor es mit der Weihnachtszeit losgeht <3

    AntwortenLöschen
  2. Es war ein sehr besonderes Erlebnis, toll, was ihr auf die Beine gestellt habt! Es wäre absolut wünschenswert, wenn das nächstes Jahr weitergehen kann. Ist auch für die Stadt etwas sehr Besonderes.
    Also noch mal Danke dafür! 👏

    AntwortenLöschen
  3. Ganz ganz toll! Haben die Figuren im Sommer auf der Strasse erlebt und es war beeindruckend

    AntwortenLöschen
  4. Richtig, richtig Klasse!

    Allein die Bilder sind großartig, wie muss dann erst das Theaterstück live sein!?!?
    Sicher beeindruckend.

    Viele liebe Grüße vom kleinen Hof am Meer,
    Ruth

    AntwortenLöschen
  5. Es ist immer fantastisch, wenn man von etwas so gepackt wird und einen die Begeisterung mitreisst!
    Man kann gar nicht anders als sich mit euch mitfreuen! Genießt die Winterpause.
    Grüße aus Berlin

    AntwortenLöschen
  6. Wirklich sehr, sehr beeindruckend. Wie schön, dass eure intensive Arbeit auf so viel positive Resonanz stieß. Ich bin schon von den Fotos so angetan - wie ist es dann erst live und in voller Pracht und Herrlichkeit 😲!
    Liebe Grüße aus dem kleinen Dorf zwischen den Meeren
    Lydia

    AntwortenLöschen
  7. https://m.youtube.com/watch

    Ich fand dies bei YouTube und bin beeindruckt ...

    AntwortenLöschen

Ich freue mich über Deinen Kommentar! Wenn Du auf meinem Blog kommentierst, werden die von Dir eingegebenen Formulardaten an Google-Server übermittelt. Mehr Infos dazu findest Du in meiner Datenschutzerklärung.

Kommentare werden von mir moderiert und es kann deshalb auch mal etwas dauern, bis sie hier erscheinen. Du kannst mir auch gerne über das Kontaktformular schreiben. Vielen Dank!