Beim Lesen des Buches "Überwintern" (Amazon-Partnerlink) muss ich ständig an die Worte meiner Hebamme in Berlin denken. Ich war in den letzten Zügen der Schwangerschaft mit meinem dritten Kind. Alles war wieder beschwerlich geworden. Ich hatte starke Rückenschmerzen, viele Vorwehen, einen Haushalt mit zwei Kindern, davon eins noch keine zwei Jahre alt und einen Mann, der von Berlin nach Hamburg zur Arbeit pendelte.
"Mach Winter." sagte meine Hebamme zu mir tröstend und beruhigend. Sie kannte sich in der Traditionellen Chinesischen Medizin aus. Darin werden die Phasen einer Schwangerschaft den Jahreszeiten und den Elementen zugeordnet. Nach einer Phase des Erblühens und Wachsens, kommt zum Ende der Schwangerschaft die Phase des Abschieds und der Ruhe.
Am Ende steht der Winter. Es ist eine Zeit des Rückzugs und der inneren Einkehr. Man soll viel schlafen, Wärme suchen, sich pflegen, warme, nährende Speisen zu sich nehmen und Kraft sammeln.
"Mach Winter." Daran denke ich in der letzten Zeit sehr oft. Und ich mache Winter. Ich überwintere. Ich versuche, den Winter zu überstehen. Und damit ist nicht nur die aktuelle Jahreszeit gemeint. Es betrifft auch die angespannte Situation der letzten zwei Jahre.
Ich achte verstärkt auf meine Bedürfnisse. Das ist viel leichter gesagt als getan. Ich wurde so erzogen, nicht aufzufallen, keinem zur Last zu fallen und meine Gefühle zu unterdrücken. Die Sätze "Hab dich nicht so." "Das tut doch gar nicht weh." "Du bist immer so emotional." "Uns hat das auch nicht geschadet." habe ich sehr oft gehört und verinnerlicht.
Bei jedem Becher Kaffee auf die Hand, bei jedem Ausflug nur für mich, bei jeder Fahrradtour, bei jedem neuen Buch, das ich mir gönne, bei jedem Schaumbad, das länger dauert, habe ich ein schlechtes Gewissen und das Gefühl, ich habe das nicht verdient.
Deshalb ist es für mich eine ganz neue Erfahrung, meine Gefühle wirklich, wirklich ernst zu nehmen und sofort zu reagieren, wenn ich merke, dass es mir nicht gut geht. Mit 45 Jahren ist es immerhin noch nicht zu spät. Ich bin da übrigens nicht selber drauf gekommen, sondern der Liebste hat mir dabei geholfen. Als ich vor einigen Wochen gemerkt habe, dass dieses dunkle und leere Gefühl heranrollt, hat er kurzerhand seine Arbeit früher beendet und ist mit mir eine ganz große Runde spazierengegangen. Er hat meine Tränen ausgehalten. Er hat zugehört und mich ganz fest gehalten.
Das hat überraschenderweise so gut geholfen, dass ich beim nächsten Mal schon selber bemerkte, dass ich aktiv was tun muss. So konnte ich die dunklen Gedanken viel schneller wieder loswerden. Ich mache Pause, wie die Natur es auch im Winter tut. Ich ziehe mich zurück, nehme mich wahr und sammle Kräfte für den Neubeginn.
Und so ziehe ich jetzt manchmal meinen kuscheligsten Schlafanzug schon am Nachmittag an. Zusammen mit dicken Socken und einem dicken Morgenmantel drüber ist das eine schöne warme Hülle. Zu Weihnachten bekam ich eine kabellose Heizdecke von Stoov geschenkt. Die lege ich mir in den Sessel oder ins Bett. Das tut so gut! Ich habe mir endlich mal richtig bequeme Unterwäsche fast ohne Nähte gekauft.
Ich gehe richtig früh ins Bett. Manchmal sogar noch vor den großen Kindern. Dann bin ich zwar sehr früh wach, nutze die Zeit aber ganz bewusst nur für mich. Ich gönne mir guten Kaffee und die beste Schokolade, die ich kriegen kann. Je nach Laune lasse ich den Haushalt liegen oder lege mit extra Kraft so richtig los. Ordnung macht mich froh.
Ich drehe das Lieblingslied im Radio lauter. Ich tanze in der Wohnung. Ich singe und pfeife. Ich backe und koche nur noch Lieblingsgerichte. Ich esse mehr Obst und Gemüse. Ich schaue mir Fotos vom Sommer an.
Ich renne bei jedem Ruf der Kraniche ans Fenster. Ich beobachte den Sonnenaufgang. Ich schaue den Wolken beim Ziehen zu. Ich staune über Schneeflocken oder den heulenden Sturmwind. Ich bleibe unterwegs stehen um mich ganz bewusst umzusehen. Ich sauge Schönheit auf, wo sie mir begegnet. Ich atme tief ein und aus. Ich übe mich in Dankbarkeit. Ich bete.
Ich bin nachsichtiger gegenüber den Kindern. Ich sage öfter "Ja." statt "Nein.". Ich lächle fremde Menschen an. Ich helfe, mache Platz und sage ein paar freundliche oder lustige Worte. Bis jetzt ist das immer sehr fröhlich gewesen.
Ich hole mir frische Farben in die Wohnung. An die Wand oder in Form von bunten Kissenhüllen. Ich suche im Schrank nach den buntesten Vasen. Ich kaufe ein Töpfchen mit Frühjahrsblühern.
So will ich den Winter überstehen. Es ist, wie gesagt, nicht leicht. Also... es ist vielmehr richtig harte Arbeit. Doch ich weiß, dass hinter jeder grauen Wolke der Sonnenschein versteckt ist. Nach jedem Winter kommt der Frühling. Mit Sonnenschein und Wärme. An diesen Gedanken halte ich mich fest. Der Winter kann ja nicht ewig dauern...
Ich danke für das Mitlesen und die Anteilnahme. Hier gibt es die Möglichkeit, etwas in die virtuelle Kaffeekasse zu tun. Herzlichen Dank für die Anerkennung!