Dienstag, 19. April 2016

Der Moment, als ich alleinerziehend wurde...

Der Moment, als ich alleinerziehend wurde, liegt ein paar Monate vor der Geburt meines ersten Kindes. Ich bin 22 Jahre alt und halte einen Zettel in der Hand, den ich auf dem Schreibtisch meines Mannes fand. Er hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, ihn zu verstecken. Auf dem Zettel sehr eindeutige Hinweise auf eine Geliebte. Gefunden über eine Kontaktanzeige. Ich weiß nicht, warum, aber ich wähle die Telefonnummer. Wider Erwarten haben wir ein sehr gutes Gespräch. Sie, abgeklärt und 20 Jahre älter als ich, sagt irgendwann lapidar: "Ach weißt Du, es gibt heutzutage so viele Alleinerziehende!" Ich muss schlucken und ich merke, es ist die Wahrheit: ich werde alleinerziehend sein.

Der zweite Moment, als ich alleinerziehend wurde, ist die Geburt meines Sohnes selbst. Als die Geburt losgeht, ist mein Mann über Stunden nicht zu erreichen. Ich fahre alleine mit meiner Beleghebamme und meiner Freundin in die Klinik und hinterlasse in der Wohnung einen Zettel. Irgendwann steht mein Mann im Kreißsaal. Ich brauche ihn nicht. Mit Hilfe meiner Hebamme und meiner Freundin bringe ich meinen Sohn zur Welt. Ich bin stolz auf mich und glücklich über meinen gesunden Sohn. In den Augen meines Mannes strahlt kein Glück, keine Anteilnahme. Gegen Mitternacht, zwei Stunden nach der Geburt, sind wir wieder zu Hause. Ich bin aufgewühlt und schaue die ganze Nacht mein Baby an. Mein Mann hat sich zur Seite gedreht und schläft. Am nächsten Morgen springt er um 7 Uhr aus dem Bett und ruft: "Ich muss los, mach dir dein Frühstück selber!" und weg ist er. Ich bin total erschrocken und beende genau in diesem Moment mein Wochenbett.

In den nächsten ein, zwei Jahren versuche ich, mich zusammenzureissen. Wir sind schließlich verheiratet und haben einen gemeinsamen Sohn. Ich bin zudem noch mitten in der Ausbildung und habe kein eigenes Einkommen. Unser Familienleben ist reine Fassade. Wir haben getrennte Zimmer, fahren nie in den Urlaub, tauchen höchstens auf Familienfeiern gemeinsam auf. An den Wochenenden ist mein Mann im Büro oder in der Kneipe. Ich mache alleine oder mit einer Freundin Ausflüge und Unternehmungen mit meinem Sohn.

Im Sommer 2000 stirbt mein Opa. "Wir haben uns nie geliebt." erzählt mir meine Oma am Ende dieser jahrzehntelangen Ehe. "Ich habe immer nur ausgehalten." Und da weiß ich, dass ich so nicht leben möchte. Ich möchte nicht am Ende meines Lebens sagen, ich hätte nie geliebt, ich hätte vielleicht gerne anders gelebt, ich habe immer nur ausgehalten. Nein, ich habe nur dieses eine Leben!

Im Kopf bin ich da längst raus aus meiner Ehe. Es dauert noch ein paar Monate, bis ich den Mut habe, mich wirklich zu trennen. Es ist einer der traurigsten Momente meines Lebens. Es gibt viel Angst, viele Tränen und viel Schmerz. Eine ganze Welt stürzt ein. Nun gut, es war vielleicht doch eher ein Kartenhaus. Meine Erwartungen, Träume und Wünsche für ein Familienleben haben sich nicht erfüllt. Es tut mir unendlich leid für meinen Sohn, der ein intaktes Familienleben nie kennenlernen wird. So sehr ich mich auch bemüht habe - ich gebe auf. Weihnachten 2000 bin ich wirklich alleinerziehend.

Mit Hilfe meiner Eltern komme ich langsam auf die Beine. In den Wochen nach der Trennung wohne ich mit meinem Sohn in meinem alten Kinderzimmer. Ich muss viele Ämtergänge unternehmen, beantrage Sozialhilfe, sitze stundenlang in langen Behördenfluren. Dann finde ich eine kleine Wohnung für mich und meinen Sohn. Ich bekomme einen Kindergartenplatz für ihn, bringe meine Ausbildung zu Ende und finde eine Arbeitsstelle. Für große Sprünge reicht es nicht, das Geld ist sehr knapp. Nebenbei das jahrelange Ringen um die Scheidung und um den Kindesunterhalt, der erst spärlich ist und irgendwann ganz ausbleibt.

Mir geht es trotz alledem sehr gut alleine mit meinem Sohn. Wir sind uns sehr nah und haben viel Freude miteinander. Ich renoviere und handwerke alleine, bringe Lampen an und sorge für unseren Lebensunterhalt. Ich bin jung, ungebunden und habe einen tollen Sohn. Im Grunde bin ich gar nicht so allein, denn wir sind wunderbar eingewoben in ein Netz aus Familie, Freundschaften und sehr guter Nachbarschaft. Mir geht es gut. 2006 lerne ich den Liebsten kennen und wechsle von alleinerziehend zur Patchworkfamilie. Aber das ist eine andere Geschichte.


Sommer 2001


46 Kommentare:

  1. Du bist eine wirklich starke Frau! Deine Kinder können stolz sein, eine Mama wie dich zu haben :-* und mal wieder toll geschrieben..
    Liebe Grüße

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  2. Wow, ich habe Dich immer schon bewundert, aber jetzt... nach Deiner so offen erzählten Geschichte : CHAPEAU! Das hast Du super gewuppt! Toll, dass Du genau rechtzeitig die Kurve gekriegt hast. Bei mir war es zwar total anders aber trotzdem gibt es wieder Parallelen. Man muss eben doch auf Herz und Bauch hören. LG und alles Gute für Dich und die Deinen - Elke

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  3. Danke für diesen intimen Einblick... so wunderschön formuliert und in meinen Augen Mut machend <3
    Das tolle Foto rundet diesen Eintrag perfekt ab!

    Viele Grüße aus der Rattenfängerstadt Hameln, Sabrina

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  4. Glückwunsch! Du hast dein Leben wahrlich selbst in die Hand genommen!!!
    Danke, dass du so etwas intimes mit uns teilst- es zeigt soooo viel Menschlichkeit! Herzlich, Regina

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  5. Von Herzen DANKE für Dein Vertrauen, uns dieses Private mitzuteilen. Ich fühle mich verbunden, da ich auch eine große Tochter aus erster Ehe und nun 3 weitere Kinder in zweiter und erfüllter Ehe habe.

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  6. Du kannst stolz auF Dich sein. Es gehört eine Menge Mut dazu, so offen damit umzugehen. Weiter viel Glück.
    Magdalena

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  7. Ein HOCH auf deine Oma! Und Hut ab!

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  8. Vielen Dank für deinen Mut, mit dem du deinen Weg gehst und teilst. Und danke für den Mut, den du schenkst. Man schafft wohl mehr als man sich aus der Sicherheit heraus zugetraut hätte.
    Alles Liebe, FrauWind

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  9. So viel Mut. Wow! Und mit verdientem Happy End!

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  10. Danke für den so privaten Einblick. Ich ziehe wirklich den Hut vor dir und deiner Entscheidung, dazu gehört viel.Mut und Kraft! Alles Gute <3

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  11. Keine Trennung ist schön. Aber manchmal sind Trennungen gut und überlebensnotwendig - und zwar für das Überleben der eigenen Persönlichkeit, für die Selbstachtung, für das Gefühl, weiterhin in den Spiegel schauen zu können und - wenn Kinder da sind - auch weiterhin den Kindern guten Gewissens in die Augen schauen zu können.
    Mein Respekt für Deine Entscheidung und lieben Dank für diesen Text, der ein so erfreulicher und aufmunternder Alleinerziehender-Text ist. Einer der wenigen, in dem nicht dieses dauernde Trauern nach der kaputtheilen Welt, aus der man sich befreit hat, mitschwingt. Dein Text klingt nach der Stärke, nach dem Mut, den (zukünftige) Alleinerziehende nunmal brauchen und er zeigt: Es kann, nein, es wird besser werden!
    Und wunderbar, dass Du mittlerweile Deinen Liebsten gefunden, mit dem Du Dir Dein eines Lebens so schön machen kannst.

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    1. Danke! Sicher spielt eine Rolle, dass ich nicht verlassen wurde, sondern selber die Trennung initiiert habe.

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  12. Meine Mutter sagte einmal zu mir in einer schrecklichen Beziehung: "Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende."
    Dass man sein Leben lang mit jemandem verbringen kann, den man nicht liebt, ist für mich unvorstellbar und doch für viele so real. Ich kann mir deine ganze Trauer und Enttäuschung direkt nach der Geburt deines Sohnes gut vorstellen. Unglaublich, dass du noch so lange ausgehalten hast. Es muss eine schlimme Zeit gewesen sein.
    Um so mehr freue ich mich, dass es dir jetzt so gut geht und du so viele wunderbare Kinder mit einem wunderbaren Mann hast =)
    Liebe Grüße,
    Kathrin

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    1. Danke! Ja, ich brauchte eine Weile, um meinen Mut zusammenzusammeln.

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  13. Mann, selbst in der heutigen Zeit kenne ich so viele Frauen, die in einer sinnlosen Ehe ausharren und sich schminken für´s Familienfoto. Und dann ein, zwei, drei Kinder mit ihrem Deppen bekommen, weil die Hoffnung irgendwie nicht stirbt, obwohl die Liebe schon lange weg ist. Und dann haben sie scheinbar den Absprung verpasst und stellen sich tot. Ich bewundere immer Frauen, die ins kalte Wasser springen und am Ende doch zu ihrem Strand schwimmen - auch durch dunkle Nächte hindurch. Ich klatsche laut.

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  14. Jetzt heule ich. Du hast sehr offene Worte gefunden und darum geht die Geschichte mir sehr nah. Hut ab! Das alles allein zu schaffen, ist nicht leicht! Super, dass du so mutig warst! Und es wird auch für deinen Sohn am besten gewesen sein. Ich wünsche dir alles Gute weiterhin!!

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  15. Liebe Carola: gut gemacht!
    Der hatte so eine tolle Frau wie dich auch gar nicht verdient.
    Ich bin froh, dass die Geschichte ein happy end hat.
    Alles Liebe!

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  16. Hattest du deinem Mann von dem Telefonat erzählt? Wie hast du das noch so lange ausgehalten?!
    Ich glaub, so wie deiner Oma ging es vielen in der Generation ...

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    1. Er wusste, dass ich es weiß.
      Und ich habe versucht, zu vergessen. Hat aber nicht geklappt.

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  17. Gänsehaut - und im ürbigen der Blogbeitrag, bei dem nun auch ich mitbekommen habe, dass hier gar nicht mit dem bloggen aufgehört wurde, sondern sich nur der feedly-Reader nicht mehr aktualisiert hat *hüstel*

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  18. Hut ab für deine Stärke. Und von deinem Blog entnehme ich das du glücklich bist :)

    Das aushalten kenn ich. Im Grunde gehrs mir auch so. Wir haben gute Zeiten aber Liebe ist hier glaub ich nicht mehr (viel) drin. Ich weiss nicht mal wie er sich fühlt. Wenn er nicht so an seiner 5 1/2 jährigen Tochter hängen würde, wäre das alles einfacher.. Naja..

    Bin froh über euer/dein Happy End :(

    Nev

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    1. Das klingt aber traurig... Bist Du fuer so eine "Aushaltesituation" nicht zu jung... Da koennte doch noch viel Neues kommen. Oder eine ehrliche Aussprache waere gut - vielleicht ist ja dann noch was zu retten? Gruesse von Schottland ind den Suedosten Englands

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    2. Ich wünsche Dir ganz viel Kraft und Mut! Es gibt ja verschiedene Möglichkeiten, auch nach einer Trennung für das gemeinsame Kind zu sorgen.

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  19. Liebe Carola, es ist erschreckend was du mit deinem Mann damals mitmachen musstest und dann doch ganz wundervoll,wie sich -nachdem du die Kraft und den Mut hattest dich zu trennen- alles noch für dich bzw. für euch entwickelt hat! Sehr sehr schön und ich bewundere grad zudem wirklich deine Offenheit--phuuu...davon hier zu schreiben ist wirklich stark und vielleicht mutmachend für Frauen, die in ähnlichen Situation stecken!?
    Ich freue mich einfach mal mit, dass du später noch die Liebe deines Lebens gefunden hast und wünsche euch Beiden und als Familie Gottes reichen Segen!!
    Liebe Grüße, Maike

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    1. Danke! Es ist ja alles schon so lange her und kann vielleicht wirklich manchen Leserinnen oder Lesern weiterhelfen.

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  20. Liebe Carola! Du kannst stolz auf dich sein! und ich freue mich sehr für dich, dass du "danach" so einen lieben Mann und eine tolle Familie bekommen hast. So ähnlich ging es mir auch. Ich frag mich aber gerade, warum trennen sich die Männer eigentlich nicht? Bequemlichkeit? Feigheit? Aber das ist ein anderes Thema. Ich wünsch dir auch für die Zukunft alles Gute und eine Liebe ohne Ende!
    Sonnige Grüße Petra

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    1. Dankeschön!

      Ja, das ist ein weites Thema und es sind ganz individuelle Gründe.

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  21. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich hier bei dir "vorbeikomme", dass es für dich ein Happy End gegeben hat. Es gibt immer eine zweite Chance, sagt eine, die diese beim Schopf ergriffen hat und seit 39 Jahren mit dem Lebensmenschen lebt.
    Herzlichst
    Astrid

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